Mama eines Schreibabys

Die Freude ist groß, wenn das Baby endlich da ist. Aber dann schreit es den ganzen Tag, und lässt sich nicht beruhigen – der absolute Horror! Als Mutter eines Schreibabys weiß ich, was du in dieser Situation hören möchtest.

Matilda kam per Kaiserschnitt auf die Welt. Aber nur, weil sie 9 Monate lang auf ihrem Po saß und sich nicht einmal gedreht hat, Steißlage. Na, das wird ein entspanntes Kind, dachte ich mir. Als ich nach dem Nähen aus dem OP geschoben wurde, hörte ich wildes Gebrüll aus dem Aufwachzimmer und die Krankenschwester begrüßte mich mit den Worten, „Na, da haben sie aber ein temperamentvolles Mädchen auf die Welt gebracht“. Mit „temperamentvoll“ kann ich leben, dachte ich damals …

Aber sie ließ uns noch eine ca. zweiwöchige Schonfrist, ganz klassisch für ein Schreibaby. Und dann ging es los: Gleich nach dem Aufwachen schrie sie sich die Seele aus dem Leib, lief rot an und machte anfangs  tagsüber nur Pause, wenn sie aus Erschöpfung einschlief. Das Schlimmste daran: Sie ließ sich einfach nicht beruhigen! Und das ist für mich die eigentliche Krux an einem Schreibaby, denn genau hier entsteht dieser deprimierende Mix aus Selbstvorwürfen, Hoffnungslosigkeit und völliger Entkräftung.

Beim Kinderarzt dann die DiagnoseFrühkindliche Regulationsstörung. Das ist die nette medizinische Umschreibung für Schreibaby. Als offizielle Bewertung gilt immer noch die Dreier-Regel nach dem amerikanischen Kinderarzt Morris A. Wessel: Das Baby macht sich über drei Wochen hinweg mindestens an drei Tagen in der Woche und länger als drei Stunden am Tag lautstark bemerkbar. Wenn du selbst ein Schreibaby hast, wirst du jetzt entnervt mit den Augen rollen, denn auf der Suche nach Hilfe ist dieser Satz die eine Konstante, auf die man überall trifft: Im Netz, beim Kinderarzt, dem Osteopathen und der Schreiambulanz. Dicht gefolgt von „Drei-Monats-Kolik“ und „Blockaden„. Ich möchte betroffenen Müttern, die sich momentan in der gefühlt schlimmsten Zeit ihres Lebens befinden, lieber drei Sätze mitgeben, die man in dieser Situation wirklich hören möchte.

1. Dein Kind ist gesund

Matilda ist mein erstes Kind. Intuitiv hat hier noch gar nichts funktioniert, ich habe mir Unterstützung von Ratgebern, Freunden, Familie und hauptsächlich aus dem Internet (böser Fehler!) geholt. Dann geht man die Check-Liste der Gründe durch – Hunger hat sie nicht, Schlafen will sie nicht, die Windel ist leer und kalt kann ihr auch nicht sein – und landet schnell bei „Ihr muss doch irgendwas wehtun„. Ab zum Kinderarzt, der kann kein körperliches Problem feststellen. Physiotherapie, um die geschwächte linke Seite zu stärken, da sie sich im Bauch kaum bewegt hat. Das Schreien geht weiter. Eine Bekannte empfiehlt mir einen Besuch beim Osteopathen, ihr Kind habe danach abrupt mit dem Schreien aufgehört. Die Hoffnung steigt wieder. Der Osteopath (wird übrigens nur selten von der Krankenkasse übernommen) diagnostiziert Blockaden im Halswirbelbereich, sogenanntes KISS Syndrom. Das muss es sein! Das ist behandelbar! Doch auch nach drei teuer bezahlten Sitzungen inkl. gemeinsamem mentalen „Erden“ vor jeder Behandlung, das mich als eindeutig der Schulmedizin zugeneigtem Menschen sehr viel Überwindung gekostet hat, ändert sich nichts. Matilda schreit immer noch.

Währenddessen vermeide ich alle blähenden Lebensmittel und verkneife mir mein geliebtes Dr. Pepper wegen der Kohlensäure, weil die Hebamme auf Koliken tippt. Wir versuchen mit allen Mitteln, das vermeintliche Bauchweh zu kurieren: Fliegergriff, Kirschkernkissen, Entschäumer wie Saab Simplex zu jeder Milchmahlzeit oder der „Geheimtipp“ BiGaia Tropfen, die dem Baby ein Milchsäurebakterium zuführen, das den Aufbau einer gesunden Darmflora unterstützt. Matilda schreit immer noch. Heute bin ich überzeugt, dass ich mir das meiste hätte sparen können. Wenn ein Baby vermehrt schreit, sollte man natürlich zuerst abklären, ob körperlich alles in Ordnung ist. Aber wenn der Kinderarzt nichts findet, muss man sich irgendwann mit der Diagnose Regulationsstörung abfinden. Trotz jahrzehntelanger Forschung bleiben die Ursachen des vielen Schreiens bis heute unklar. Die früher häufig diagnostizierten „Drei-Monats-Koliken“ und ein aufgeblähter Bauch sind weniger Ursache, als Folge des Schreiens. Denn ein unruhiges Kind schluckt beim Brüllen so viel Luft, dass sich sein Leib aufpumpt. Was wiederum sehr unangenehm ist, ein Teufelskreis also.      

2. Es ist nicht deine Schuld

Mein Baby schreit und ich kann es nicht beruhigen. Wieso spürt mein Baby nicht die Liebe, die ich für es empfinde, wenn ich es auf den Arm nehme und schiebt mich weg? Warum hilft der in der Schwangerschaft penibel ausgesuchte Gute-Nacht-Song nicht, wenn ich ihn liebevoll vorsinge? Ich muss eine schlechte Mutter sein. Das ist der schlimmste Gedankengang, wenn man ein Schreibaby hat. Ich hatte nie so viele Selbstzweifel und so ein geringes Selbstbewusstsein wie im ersten Jahr mit meiner Tochter. Es wollte nicht in meinen Kopf, dass ich ihr als Mutter vielleicht gar nicht wirklich helfen kann.

Dazu kommt, dass niemand außerhalb der Familie versteht, mit was man zu kämpfen hat. Wenn das Baby an einem Nachmittag beim Playdate mit der Freundin einen guten Tag hat, hört man gleich den Kommentar „Sie ist doch gar nicht so schlimm. Bist du sicher, dass du nicht übertreibst?“. Oder die Oma kommentiert das stundenlange Rumgeschleppe mit einem „Leg sie doch mal hin, du verwöhnst sie zu sehr, deswegen tanzt sie dir auf der Nase herum.“ Durch solche Kommentare wird die Frustration noch erhöht.

Ich habe gefühlt alles gelesen, was es zum Thema Schreibaby gibt. Ungefähr 20 Prozent aller Babys schreien in den ersten drei Monaten unerklärlich viel. Nach aktueller Forschung haben diese Kinder eine Regulationsstörung, das bedeutet, sie können sich nur schwer selber beruhigen und einschlafen. Das Baby muss diesen Entwicklungsschritt allerdings selber lernen, als Eltern kann man diesen Prozess kaum erleichtern. Ich habe alles ausprobiert: Sämtliche Tragegriffe, eine Federwiege an der Decke, verschiedene Geräusche von Herzschlag, über fließendes Wasser bis hin zu weißem Rauschen (sehr nervig). Ein Buch hat schnelle Schaukelbewegungen und die üblichen Sch-Laute empfohlen, allerdings immer lauter als das Baby. Also habe ich Matilda auf dem Arm wild hin und her geschaukelt, während wir uns gegenseitig anschrien. Am Ende haben am besten ein verhasster und am 1. Geburtstag zeremoniell zerschnittener Pezziball geholfen und ein geregelter Tagesablauf.   Schreibabys sind schreckhaft und leicht zu irritieren, eine ruhige Umgebung und gelernte Abläufe unterstützen die Beruhigungsversuche. Ich bin täglich über drei Stunden spazieren gegangen, weil Matilda nur (im sich bewegenden!) Kinderwagen geschlafen hat. Auch bei Minus 15 Grad. Am Ende muss man sich darüber klar sein, dass man ein Schreibaby nur in Maßen bei der Entwicklung unterstützen kann. Und dass man keine Schuld daran hat.

3. Es geht vorbei

Da ist er. Der wichtigste Satz. Der Silberstreif am Horizont. Ich habe es durch 7 harte Monate geschafft, um allen Leidensgenossinnen da draußen zu sagen: Es geht vorbei! Und zwar ohne bleibende Schäden, zumindest beim Kind. Wenn man drinsteckt in dieser unglaublichen Wolke aus Hoffnungslosigkeit in der man denkt, man muss sich jetzt für den Rest seines Lebens um die Ausgeburt der Hölle kümmern, kann nie wieder 5 Stunden durchschlafen oder sich zu einem ruhigen Abendessen hinsetzen, dann ist das der eine Satz, den man hören will.

Matilda ist jetzt fast drei Jahre alt und völlig normal. Sie ist immer noch ein temperamentvolles Kind und treibt mich mit ihren Wutausbrüchen und ihrem Sturkopf  oft an den Rand des Wahnsinns, aber da ist kein Gefühl mehr von Panik, wenn ich in die Zukunft sehe. Keine Angst vor Entwicklungsstörungen wegen Bindungsproblemen zwischen Mutter und Kind in den ersten Monaten. Wenn ich auf die Zeit zurückblicke, liegt sie mir immer noch schwer im Magen. Noch habe ich nicht vergessen. Ich erinnere mich auch gut an die Wut, die ich gegenüber meinem Kind empfunden habe. Wieso habe ich kein „normales“ Baby bekommen? Wieso kann ich nicht mit meinen Freundinnen Prosecco trinkend beim Frühstück sitzen, während mein Baby friedlich im Kinderwagen liegt? Ich glaube, dass der Schmerz über den „Verlust“ des in der eigenen Wunschvorstellung perfekten Babys die Basis für all die anderen frustrierenden Gefühle mit Schreikind ist.

Das Wichtigste ist, sich in so einer Situation Hilfe zu holen. Ich hatte das Glück, beide Großeltern in der Nähe und einen Mann an meiner Seite zu haben. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie gemacht hätte. Wenn die Erschöpfung zu groß wird und du anfängst zu verstehen, warum Mütter ihre Babys schütteln, ist es Zeit, einen Hilferuf abzusetzen. Das kann die Familie, die beste Freundin oder eine Schreiambulanz sein. Du bist nicht die einzige und es gibt keinen Grund, sich zu schämen. Frage nach Hilfe! Und hör auf zu googeln!

Unsere Website verwendet Cookies und sammelt dadurch Informationen über Ihren Besuch, um unsere Website zu verbessern (durch Analyse), Ihnen Social-Media-Inhalte und relevante Werbung zu zeigen. Bitte lesen Sie unsere Seite für weitere Details oder stimmen Sie zu, indem Sie auf die Schaltfläche "Akzeptieren" klicken.

Cookie settings

Below you can choose which kind of cookies you allow on this website. Click on the "Save cookie settings" button to apply your choice.

FunctionalOur website uses functional cookies. These cookies are necessary to let our website work.

AnalyticalOur website uses analytical cookies to make it possible to analyze our website and optimize for the purpose of a.o. the usability.

Social mediaOur website places social media cookies to show you 3rd party content like YouTube and FaceBook. These cookies may track your personal data.

AdvertisingOur website places advertising cookies to show you 3rd party advertisements based on your interests. These cookies may track your personal data.

OtherOur website places 3rd party cookies from other 3rd party services which aren't Analytical, Social media or Advertising.